Tod im Mutterleib - der verlorene Zwilling
Wie es dazu kommt, dass nur einer von beiden Zwillingen überlebt, ist nicht eindeutig geklärt. Aus biologischer Sicht ist der vorgeburtliche Tod nichts Außergewöhnliches. Er ist, so die Annahme, das Ergebnis einer körpereigenen Qualitätskontrolle. Das heißt, der mütterliche Organismus prüft den Embryo auf genetische Anomalien. Durch diese Prüfung werden laut Schätzungen zwischen 50 bis 75 Prozent aller Schwangerschaften beendet und die Frau merkt meistens nichts davon.
Spirituell gesehen, entscheidet sich die Seele des sterbenden Zwillings dafür nicht zu inkarnieren. Die Seele kann nicht sterben. Sie ist immer da. Sie zieht sich nur aus dem Fahrzeug, dem menschlichen Körper wieder zurück. Es kann sein, das diese Seele eben genau diese Erfahrung machen möchte, in der Gebärmutter der Mutter zu sterben. Auch mit dem weiteren Hintergrund, daß der überlebende Zwilling auch diese negativen Folgen im Leben erfahren möchte, einen Zwilling verloren zu haben.
Der überlebende Zwilling kann dadurch Probleme im Leben bekommen. Er entwickelt unerklärliche Verhaltensweisen, die ihm das Gefühl vermittelten nicht vom Fleck zu kommen oder vielleicht sogar verrückt zu sein, unbestimmte Ängste, die den Energiefluss blockierten, und unbewusste Lebenseinstellungen, die bisher den eigenen Erfolg boykottierten. Der überlebende Zwilling ahnt meistens, dass er nicht alleine in der Gebärmutter war - die Bewusstwerdung, dass es tatsächlich so war, erklärt dem Menschen viele seiner Verhaltensweisen.
Das Leben vor der Geburt wird seit den 60er Jahren erforscht und dokumentiert. Rasterelektronenmikro-skope, Fiberoptik, Speziallinsen, Ultraschallaufnahmen und andere Messgeräte und Labortechniken bringen das Zauberkunststück fertig, dass wir uns heute ein umfassendes Bild davon machen können, wie sich jeder einzelne Teil des körperlichen Systems vor der Geburt entwickelt. Man konnte sogar beobachten, wie das ungeborene Kind bei einer Fruchtwasseruntersuchung zurückschreckt.
Das Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung: Schon als Fötus nehmen wir ständig Informationen auf und lernen aus unseren Erfahrungen auf recht ähnliche Weise wie Erwachsene. Wir sind keine empfindungslosen Wesen während der Zeit im Mutterleib, sondern sehr komplexe kleine Geschöpfe mit Gedanken und Gefühlen. Der amerikanische Forscher David Chamberlain hat 1988 in Untersuchungen im Ultraschall beobachtet, dass bereits zwei Monate alte Embryos bewusst wahrnehmen und reagieren können. Fünf Wochen nach der Einnistung, wenn der Embryo eine gewisse Größe erreicht hat, spürt er die Gegenwart des anderen sehr genau. Das Ohr ist das erste, was ein werdender Mensch ausbildet. Der Zwilling hört als erstes seinen eigenen Blutkreislauf und den des anderen, noch bevor das Herz anfängt zu schlagen. Die Geräusche seines Geschwisters sind ihm näher als die Darmgeräusche und der Herzschlag der Mutter.
Später beginnt er mit dem anderen Kontakt aufzunehmen und mit ihm zu spielen. Manche sind zärtlich zueinander, andere boxen miteinander. "Die vorgeburtlichen Spiele werden auch nach der Geburt fortgesetzt", sagt Pränatalpsychologe Ludwig Janus. "Man kann sich vorstellen, dass es nicht ohne Folgen bleibt, wenn der Spielpartner plötzlich nicht mehr da ist. Das ist ein großer Verlust auf emotionaler Ebene.
Dass einem Embryo Gefühle zugestanden werden, ist übrigens nicht selbstverständlich. Noch bis in die 70er Jahre herrschte in medizinischen Kreisen die Meinung vor, Neugeborene hätten keine Gefühle. Früher auch eine beliebte These: Babys haben keine Worte, also können sie nicht denken. "Insofern gibt es auch heute noch Wissenschaftler, die daran zweifeln, dass wir uns an das erinnern können, was wir vor dem Sprechen erfahren", sagt Ludwig Janus.
Heute ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass bei einer Fruchtwasserpunktion der Fötus auf die Nadel reagiert und sich blitzschnell wegbewegt. Man muss sich dabei klar machen, dass die Föten erst in den letzten beiden Schwangerschaftsmonaten die Augen öffnen können. Der Fötus "sieht" also mit geschlossenen Augen die winzige Punktionsnadel und wendet sich blitzschnell ab.
Minuten nach der Geburt kann ein Baby das Gesicht seiner Mutter — das es nie gesehen hat — aus einer ganzen Fotogalerie herausfinden. Bedenken Sie einmal, wie reibungslos die Sinne bei der Geburt aufeinander eingespielt sind: Die Augen drehen sich mit dem Kopf in Richtung eines Geräuschs; die Hände werden gehoben, um die Augen vor grellem Licht zu schützen; liegt das Baby zum ersten Mal an der Brust, kann es saugen und in perfekter Gleichzeitigkeit dazu atmen.
Die menschliche Schwangerschaft und die Entwicklung des Fötus sind also gut erforscht. Nach neuen Schätzungen sind zwischen 50 und 78 Prozent aller Schwangerschaften Mehrlingsschwangerschaften. So hat mindestens jedes zweite Kind, das zur Welt kommt, während seiner Entwicklung im Uterus ein Schwesterchen oder Brüderchen verloren - meistens in den ersten Wochen und ohne das die schwangere Mutter etwas von dem Todeskampf in ihrer Gebärmutter bemerkte.
Was mag dann der Fötus erst wahrnehmen, wenn sein Bruder oder seine Schwester aufhört zu wachsen, die vertrauten Herzgeräusche schwächer werden, die körperlichen Berührungen nicht mehr erwidert werden und er den Raum, wo der andere sein müsste, besetzt. Dann ist er allein. Nach der Geburt legt sich ein Schleier des Vergessens auf alles, was er vorher erfahren hat. Ist alles das, was wir im Mutterleib erlebt haben, spurlos verschwunden und erledigt? Sicher nicht.
Vor der Geburt von Zwillingen können sich im Mutterleib wahre Dramen abspielen. Häufiger als angenommen stirbt ein Embryo, der andere überlebt. Die möglichen Folgen für das überlebende Kind: gestörtes Bindungsverhalten und ein erhöhtes Risiko für angeborene Krankheiten.
Zwillinge spüren bereits im Mutterleib, dass sie nicht alleine sind. Sie hören den Herzschlag des anderen und nehmen Kontakt zueinander auf. Was aber, wenn der Bruder oder die Schwester plötzlich nicht mehr da ist? Dass ein Zwillingskind bereits vor der Geburt stirbt, passiert häufiger als vermutet. Mediziner sprechen vom "Vanishing-Twin-Syndrom", dem "verlorenen Zwilling". Laut embryologischer Forschungen ist jede zwanzigste bis achte Schwangerschaft zu Beginn eine Mehrlingsschwangerschaft. Auch prominente Beispiele gibt es: der österreichische Sänger Falco war ein Überlebender von Drillingen und Elvis hatte einen älteren Zwillingsbruder, der bereits bei der Geburt tot war. Kleine Kinder bis etwa zum Alter von drei Jahren erinnern sich mitunter spontan an ihre frühe Erfahrung bzw. können auch danach gefragt werden.
Unentdeckte Zwillinge
"Das Schwierige an der Zwillingsgeschichte ist, dass sie meistens tief im Unbewussten schlummert", sagt Evelyne Steinemann, Trauma-Therapeutin aus Zürich. Die Mutter bemerke den Todeskampf in ihrer Gebärmutter oft nicht. "Üblich ist bis heute, den Frauen erst im dritten Schwangerschaftsmonat die gesehene Mehrlingsschwangerschaft mitzuteilen, weil der zweite oder auch dritte Embryo vorher häufig verschwindet", sagt Steinemann. "Viele Ärzte wollen Schwangeren eventuelle Enttäuschungen ersparen." Doch häufig ahnt auch der Mediziner nichts. Bei Ultraschalluntersuchungen wird nichts von einem Abgang bemerkt, wenn der Verlust bereits vor dem ersten Ultraschall geschehen ist. Schon innerhalb weniger Wochen ist es nicht mehr möglich, den abgestorbenen Embryo im Mutterleib nachzuweisen.
Aus der Zwillingsforschung ist längst bekannt, dass Zwillinge lebenslänglich eine tiefe Bindung haben. Dass aber auch ein verlorener Zwilling weitreichende Auswirkungen auf das Leben eines Betroffenen haben kann, ist psychologisches Neuland.
Die emotionalen Auswirkungen durch einen verloren gegangenen Zwilling können schwerwiegend sein - müssen aber nicht
Verhaltensmuster überlebender Zwillinge: "Einige versuchen für beide zu leben, um unbewusst den anderen zu ersetzen. Sie arbeiten beispielsweise für zwei." Da der überlebende Zwilling bereits eine erste Todeserfahrung und einen schweren Abschied hinter sich hat, könnten ihn unbewusst Schuldge-fühle plagen. Fragen wie "Habe ich zu viel Platz eingenommen oder habe ich zu viel Nahrung für mich beansprucht, dass das Geschwisterchen sterben musste?" können tief im Unterbewusstsein verankert sein.
Manchmal bleiben Spuren zurück
Wohin aber verschwindet der tote Zwilling? In manchen Fällen bleiben keine Spuren zurück – dann, wenn der abgestorbene Zwilling vom Körper der Mutter zersetzt und in den Körperkreislauf wieder aufgenommen wird oder wenn es zu einer unbemerkten Fehlgeburt mit geringen bis gar keinen Symptomen kommt.
Wenn ein Zwilling stirbt, lebt der andere mit der Kraft von beiden", heißt es. Andererseits sprechen Pränatalforscher von traumatischen Erfahrungen für den überlebenden Zwilling und Konsequenzen für sein späteres Bindungsverhalten.
Bei Beobachtungen in einer Studie nach dem Tod eines Zwillingsfötus wurden regelmäßig Unter- suchungen durchgeführt, um zu überprüfen, ob der überlebende Zwilling sich durch den toten Fötus in Gefahr befindet. Mit grosser Überraschung stellte man fest, dass der verstorbene Zwilling immer weniger wird und nach einiger Zeit absolut spurlos verschwunden ist, vollständig und restlos von der Gebärmutterschleimhaut absorbiert.
Es gibt Föten, die wie versteinert im Mutterkuchen eingewachsen sind, so dass dann ein Kind lebend zur Welt kommt und kurz danach noch ein verhärteter Klumpen. Dann gibt es den so genannten "Fetus papyracaeus" - das ist der in der Schwangerschaft gestorbene Zwilling, dessen Körperwasser von der Mutter wieder aufgenommen wurde und der platt gedrückt, beinahe wie ein Blatt Papier, in der Gebärmutter liegt und bei der Geburt mit herauskommt. Manchmal enthält die Nachgeburt mehrere Plazenten – pro Mutterkuchen gab es mindestens ein Kind. In den Plazenten finden sich dann unter anderem Haar- oder andere Gewebespuren eines "Vanishing Twin".
Manchmal bleibt etwas vom verlorenen Zwilling in seiner Schwester oder in seinem Bruder zurück: Dann, wenn der überlebende Zwilling Spuren von embryonalem Gewebe in sich trägt. Oder wenn – was extrem selten vorkommt – sich ein Zwilling im Körper des anderen einnistet. Im Jahr 2003 wurde der Fall eines siebenjährigen Jungen aus Kasachstan bekannt, der wegen eines Tumors ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Doch die Ärzte stellten fest: Er trug den Fötus seines Zwillingsbruders im Bauch.
Im Allgemeinen erleben es Betroffene als unglaubliche Erleichterung, wenn sie ihren früh verlorenen Zwilling in der Therapie entdecken. Plötzlich erklären sich zuvor scheinbar unerklärliche Phänomene ihres Lebens. Sie wissen endlich, wohin ihre starken Gefühle tatsächlich gehören und sie können einen heilsamen Prozess in Gang bringen, in welchem sie integrieren und alles an seinen Platz kommen kann. Der Zwilling wird nach einer Weile oftmals als besondere Ressource erlebt.
Beziehungsmuster nach Verlust eines Zwillings/Drillings
STERN - Artikel vom 15. Januar 2009
Von Sylvie-Sophie Schindler